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Die Gezeiten der Erde

Wenn wir in andere Bewusstseinsebenen eintauchen, sei es im Traum, Tagtraum, der schamanischen Reise oder Meditation klinken wir uns ein Stück weit aus dem Hier und Jetzt aus. 

Es stellt sich mir die Frage, ob es nicht auch eine Art Weltflucht ist, um dem Elend und den Grausamkeiten des irdischen Daseins zu entfliehen. Die jenseitige Welt erscheint schöner, leichter, schmerzfreier. Wir suchen nach Lösungen unserer irdischen Probleme, nach Erlösung aus dem Gefangensein in einem Körper, Befreiung von Schmerzen oder Ängsten. Es wird häufig von einem „Aufstiegsprozess“ gesprochen und dann wird das Leben besser, friedlicher und wir sind glücklicher. Doch bei aller Strebsamkeit in täglichen Übungen, Workshops, Coachings, investiertem Geld, werden wir süchtig nach neuem Input und ständigen positiven Vibes. Anzuerkennen, dass das irdische Leben eben genau AUCH aus den Beschwerlichkeiten und Anstrengungen mit allem Gelingen und Scheitern besteht, fällt uns häufig schwer. Es ist schon ein wenig „spätrömische Dekadenz“ sich dem kapitalistischen Esoterikmarkt zu verschreiben, Heilsversprechen und "Aufstiegsideologien“ blind zu vertrauen oder sich Verschwörungstheorien radikal anzuschließen. Um nicht in die Öko-Hippie-Ecke geschoben zu werden, nennt man es alternativ "Spiritualität" oder "Wahrheit", das klingt elitärer und abgeklärt. Es ist ein großes Geschäft mit den Nöten der Menschen und häufig ein Heilsversprechen, das vielfach nicht eintrifft. Man bleibt im Prinzip Hoffnung oder Sehnsucht stecken, anstatt sich der sichtbaren, konkreten Realität zu stellen. 

Andererseits gibt es ein diffuses Ahnen, es könnte doch viel mehr geben, als wir mit unseren Augen und Ohren wahrnehmen. Ob mathematisch oder physikalisch berechnet, in Nahtoderfahrungen oder durch astronomische Entdeckungen belegt, entsteht die Vermutung, es könnte doch eine Welt jenseits des Sichtbaren geben. Wie auch immer, wir bleiben mit unserem Körper und unseren Emotionen eng verbunden, müssen uns mit Alltäglichkeiten auseinandersetzen und uns immer wieder aufs Neue behaupten. Wir stoßen an persönliche Grenzen, wenn wir mit dem Tod, Verlusten und emotionalem Leid konfrontiert werden. Jeder einzelne muss sich  immer wieder neu erfinden, den Blick nach vorne bewahren und sich wieder auf die Schönheiten dieser Erde konzentrieren, wenn man in einem dunklen Tal steht oder eine Reizüberflutung uns den Verstand raubt. Das Irdische Leben ist ein ständiges Hin und Her wie Ebbe und Flut. Wir sind Teil der Gezeiten der Erde mit allem was dazu gehört: Freude und Schmerz, Liebe und Grausamkeit, Tod und Leben. Weder das Eine noch das Andere ist ausschließlich anwesend und so ist die Herausforderung mit den Lebenswellen zu gehen, egal in welche Richtung sie schwappen. Kein Guru, Schamane, Coach oder Astrologe kann uns etwas abnehmen, allenfalls hilft er/sie uns, den Wahnsinn auszuhalten und mit der Welle in die jeweilige Richtung zu schwimmen. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen mit dem eigenen Leben umzugehen.